Was wissen wir eigentlich von den Menschen, die uns am nächsten stehen? Welche Geheimnisse verbergen sie in den versteckten Räumen ihrer Geschichte, in den Tiefen ihrer Vergangenheit?
Elia Barceló, die in Spanien geborene und seit vielen Jahren in Innsbruck lebende Erfolgsautorin („Das Rätsel der Masken", „Töchter des Schweigens"), ist eine Spezialistin, wenn es darum geht, mit subtiler Schärfe Familienkonstellationen zu sezieren und den Schleier vermeintlich heiler Familienwelten zu zerreißen. Das beweist sie einmal mehr in ihrem eindringlichen neuen Roman „Das Licht von Marokko". Protagonistin des Buches ist die Spanierin Helena Guerrero, eine Weltenbummlerin, die sich am anderen Ende der Welt, in Australien, niedergelassen hat und als Malerin rund um den Erdball Erfolge feiert. Das Markenzeichen all ihrer Bilder ist ein irritierender dunkler Schatten, dessen Bedeutung sie selbst nicht enträtseln kann, von dem sie nur ahnt, dass er für ein verdrängtes Familiengeheimnis steht, vor dem sie ihr ganzes Leben davon gelaufen ist. Der Schatten reicht zurück zu jenen glücklichen Tagen, die Helena mit ihrer Familie und ihrer Schwester auf dem Landsitz der Familie in Marokko, in der Nähe von Rabat, verbracht hat. Am Abend der ersten Mondlandung 1969 feiern die Guerreros auf ihrem Familiensitz ein rauschendes Fest - das in einer Tragödie endet: Denn Helenas Schwester Alicia verschwindet und wird früh am Morgen in der Nähe des Anwesens ermordet aufgefunden. Die Suche nach dem Mörder bleibt erfolglos.
Knapp fünfzig Jahre später kehrt Helena anlässlich eines anstehenden Familienfestes nach Spanien zurück. Eine Kiste mit alten Briefen und Dokumenten ihrer Mutter katapultiert Helena mit einem Schlag in die Vergangenheit zurück - lässt die Ereignisse von damals wieder lebendig werden und beraubt sie sukzessive aller Illusionen über ihre Familie.
Elia Barceló verbindet dabei die Vergangenheit der Guerreros mit Einblicken in die Geschichte Spanisch-Marokkos, von wo aus Francisco Franco 1936 seinen Putsch gegen die spanische Regierung startete. Eindringlich verknüpft sie die fiktive Handlung mit Einsichten darüber, wie tief die Franco-Diktatur in den Alltag der Menschen hinein seine Schatten warf und selbst vor den Entbindungsstationen der Krankenhäuser nicht Halt machte.
Elia Barceló erzählt Helenas Geschichte auf unterschiedlichen Zeitebenen. Mosaikartig fügen sich die Facetten einer tragischen Familiengeschichte
zusammen und lüften das Geheimnis des Schattens auf Helenas Bildern.
Als versierte Erzählerin gelingt es ihr dabei, den Spannungsbogen so zu halten, dass wir als Leser bis zum Ende atemlos darauf warten, wie sich die verschiedenen losen Fäden zusammen fügen! Ein absolut lesenswerter Pageturner!
Rita Mielke
Elia Barceló: Das Licht von Marokko. München: Pendo. 2017. 492 S., 22,- Euro