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Zu spät, aber mit Liebe
Ich wache am Sonntag, den 14. Mai 2017 spät auf. Draußen scheint die Sonne und einige Vögel zwitschern im Garten und überhaupt ist doch alles so herrlich idyllisch mit der Aussicht auf ein ausgiebiges Frühstück und einen Tag Nichtstun. Das Produktivste, das ich heute machen werde, ist, mich zwischen Esstisch und Sofa hin und her zu bewegen - der perfekte Tag also.
Auf dem Weg in die Küche begegne ich bereits meiner Schwester, die mit Tabletts beladen an mir vorbeihuscht und meinem Vater, der einen riesigen Strauß roter Rosen in der Hand hält.
Hä? Warum sind die denn alle schon so aktiv? Hab ich was verpasst? Irgendwas Wichtiges? Hektisch blättere ich in meinem Handykalender…Valentinstag ist im Februar, Geburtstag hat auch keiner, aber der Online-Nachrichtendienst spamt einen Haufen Artikel, die mit Herzen und Blümchen illustriert sind.
„Die schönsten Geschenke zum Muttertag“. - Scheiße.
Jetzt hellwach hechte ich die Treppe wieder hoch in mein Zimmer - wenn ich mich ganz leise verhalte, kann ich vielleicht erst morgen unauffällig wieder aus meinem Bett kriechen, wenn die Gefahr vorüber ist.
Im sicheren Bett angekommen, google ich erst mal „Muttertag“.
Hmpf. „Jeder zweite Sonntag im Mai.“ Was soll das denn? Wer kann sich das überhaupt merken?
Natürlich kommt die Tradition aus Amerika, total süß, laut Wikipedia initiiert von Anna Marie Jarvis zu Ehren ihrer verstorbenen Mama mit einer großen Blumenverteilaktion. Die Verbreitung in der Welt brauchte aber wohl noch ein bisschen und Deutschland hörte den Startschuss erst 100 Jahre später. Warum muss ich denn Deutschland verkörpern?
Wenn ich fünf Jahre alt wäre, würde ich jetzt einfach schnell ein buntes Porträt von Mama malen, das mehr an Godzilla erinnert als an diese tolle Frau, die gerade unten von meiner Schwester ein Frühstück und von meinem Papa Blumen bekommt.
Ich bin aber nicht fünf, also fällt diese Option schon mal weg. Langsam werde ich sauer auf mich selbst. Ich klettere zum zweiten Mal an diesem Tag aus meinem Bett, diesmal mit mehr Kampfgeist.
Irgendetwas muss es doch geben, was ich jetzt noch auf die Beine stellen kann! Etwas schönes, würdiges, günstiges, schnelles, kreatives…mein Hirn rotiert.
Pralinen, zu basic. Frühstück, schon vergeben. Blumen, auch. Gedicht, haha. Nein. Bein, Schwein, klein. Ich seufze. Die Kapitulation tanzt mit einer weißen Flagge wedelnd vor meinem Gesicht herum. Ich schubse sie zur Seite und greife nach einem Stück Briefpapier (ja, sowas gibt es noch zu kaufen, wenn man lange genug sucht!) und einem Stift.
Liebe Mama,
tut mit leid.
Ich hab den Muttertag total vergessen; ich habe keine Blumen,
keine Schokolade und keinen selbstgemachten Kuchen in der
Hinterhand. Hoffentlich weisst du aber trotzdem, dass ich dich
unglaublich lieb habe.
Ich danke dir, dass du da bist, um mit mir spazieren zu gehen und
einen Haufen Serien zu schauen, mir zu zeigen, wie man backt, mir
in jeder Situation den Rücken zu stärken und immer an mich zu
glauben, auch wenn ich es selbst gerade nicht tue.
Ich bin so stolz darauf, dich als meine Mama und beste Freundin
zu haben und auch wenn ich dir einen Gutschein auf ein richtiges
Muttertagsgeschenk überreichen muss, kommen diese Worte
von Herzen.
Alles Liebe
Deine Emily“
Ich finde eine schöne Herzchenschleife für den Brief und öffne zaghaft meine Zimmertür.
In der Küche sitzt der Rest meiner Familie beim Muttertagsfrühstück. Der Rosenstrauß steht in der Mitte des Tisches.
„Alles Gute zum Muttertag“, sage ich und gebe Mama einen Kuss und den Brief.
Während sie liest, hibble ich nervös von einem Fuß auf den anderen. Dann steht Mama auf und nimmt mich in den Arm.
„Ich hab dich auch ganz doll lieb, du verpeiltes Ding“, sagt sie und lacht. Ich auch. Meine Mama ist doch die Beste.
Und den nächsten Muttertag hab ich mir schon mal fett in meinem Kalender markiert. Vorsichtshalber.
Emily Bredtmann