Fantasie und Wirklichkeit – in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie bedingen oder prägen sie einander? Eine spannende Frage, gerade dann, wenn es um Gewaltfantasien und –verbrechen geht. Fiktive Morde an realen Persönlichkeiten oder reale Morde als fiktionales Thema: Das Spektrum der Möglichkeiten ist fließend – und die aktuelle Krimiszene liefert jede Menge Beispiele dafür.
Eine außergewöhnliche Facette des Themas liefert der Debütroman der Dänin Katrine Engberg. Denn die junge Autorin, die in ihrer Heimat bislang als Tänzerin, Choreografin und Regisseurin bekannt geworden ist, dreht den Spieß einfach um. Am Anfang ihrer Geschichte steht ein Krimimanuskript, verfasst von der pensionierten Professorin Esther de Laurenti, die ihren Ruhestand mit Rotwein, Gesangsunterricht bei einem jungen Lehrer und dem Schreiben eines Romans gestaltet. Dann geschieht in ihrem Haus ein Mord. Die Tote ist eine junge Studentin, Julie, und es wird schnell klar, dass der Mörder den Mord exakt nach der Vorlage von Esthers Kriminalroman inszeniert hat. Nur: Dieser Roman ist unveröffentlicht und lediglich den Mitgliedern einer kleinen Schreibgruppe bekannt, mit denen Esther im Netz darüber kommuniziert hat.
Noch bevor die beiden Ermittler Jeppe Korner und Anette Werner sich einen Reim auf die makabre Tat machen können, geschieht ein zweiter Mord – diesmal trifft es Esthers jungen Gesangslehrer Kristoffer. Aber weshalb? Welches Motiv treibt den Mörder an? Und wer könnte sein nächstes Opfer sein? Für die Ermittler wie für die Leser von Katrine Engbergs Roman beginnt eine atemlose Jagd nach den Motiven der Taten und damit nach dem Täter. Unterschiedliche Erzählperspektiven und viele irreführende Fährten locken den Leser mehr als einmal auf Abwege – und das über weite Strecken des Buches. Denn erst im letzten Viertel fügen sich die vielen Puzzlesteine allmählich zu einem schlüssigen Gesamtbild.
Katrine Engberg gelingt es meisterhaft, einen Spannungsbogen zu legen, der über das gesamte Buch trägt. Mit subtiler Raffinesse spielt sie dabei mit der Frage nach den (fließenden) Übergängen von Realität und Fiktion. Ebenso subtil ist die thematische Metaebene des Buches angelegt: Auf dieser geht es um die Fragen von Familie und familiären Beziehungen, um Mütter und Väter, um Kinder - eigene, weggegebene, adoptierte und um die Spuren, die die unterschiedlichen Konstellationen im Leben eines Menschen hinterlassen. Hier zeigt Katrine Engberg ihr psychologisches Einfühlungsvermögen, das die charakterliche Disposition der Beteiligten und die daraus erwachsenden Handlungsmotive Schicht für Schicht freilegt.
Ein literarischer Krimi mit anspruchsvollem Lesevergnügen, ideal für lange Urlaubs-Sommerabende.
Rita Mielke
Katrine Engberg: Krokodilwächter. Zürich: Diogenes. 2018. 506 S., 22,- Euro