Sylvie Schenk gehört zu den eher leisen, aber umso eindringlicheren Stimmen der zeitgenössischen deutschen Literatur. Die Deutsch-Französin, die in Stolberg bei Aachen lebt und mit Auszügen aus ihrem autobiografischen Roman „Schnell, dein Leben“ 2016 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teilgenommen hat, pflegt einen außergewöhnlich prägnanten, extrem verdichteten Erzählstil, mit dessen Hilfe es ihr gelingt, ebenso tiefgründige wie komplexe Themen auf vergleichsweise kleinem Raum auszubreiten. Das trifft auch auf ihren neuen Roman zu: „Eine gewöhnliche Familie“ erzählt auf gerade mal 160 Seiten von den Rissen und Verwerfungen innerhalb eines Familienverbunds, die sich durch einen Tes-tamentsstreit unüberbrückbar zuspitzen. Der Testamentsfall tritt ein, nachdem ein altes Ehepaar, Onkel Simon und Tante Tamara, im Abstand von nur wenigen Stunden verstorben sind. Der Erbfall ist kompliziert, denn nach dem Tod des Onkels fiel das Erbe, wenn auch nur für wenige Stunden, der Tante zu. Deren Testament jedoch ist ungültig, weil davon nur noch eine Kopie vorliegt, das Original ist auf seltsame Weise verschwunden. Für die vier Geschwister Cardin, allesamt längst erwachsen, aber den Verstorbenen stets besonders verbunden (was sich auch im Erbe hätte ausdrücken sollen), ist die Lage prekär. Denn ohne das Testament könnten Tante Tamaras Schwester und deren Sohn das nicht unbeträchtliche Erbe antreten. Sylvie Schenk lässt das Buch aus der Perspektive von Céline, einer der Schwestern, erzählen. Sie galt im Familienverbund stets als die „Intellektuelle“, während Aline als die „Schöne”, Pauline als die „Lustige” und Philippe als der „Sportliche” galt. Céline, Übersetzerin von Beruf, ist geübt darin, genau zuzuhören, Zwischen- und Untertöne wahrzunehmen, sich selbst eher auf die Rolle einer Beobachterin zurückzuziehen. Aus dieser Perspektive lässt Sylvie Schenk ihre Leserinnen und Leser teilnehmen an der Trauerfeier für die Verstorbenen, bei der sich quer durch die gesamte Familie alte und neue Verwerfungen heftig Bahn brechen. Für Trauer ist da wenig Platz, weil Enttäuschung und Empörung über den Verlauf des Erbfalls alles andere beiseiteschieben. Mit psychologischer Präzision arbeitet Sylvie Schenk die unterschiedlichen Charaktere der Beteiligten heraus. Wenige Sätze genügen ihr, um eine Figur und deren Entwicklung oder Veränderung seit Kindertagen präsent werden zu lassen. Offene, nie ausgesprochene Probleme der Geschwister untereinander treten jetzt unüberhörbar zutage, schwelende Konflikte brechen auf – insofern: „Eine gewöhnliche Familie“. Mit Hilfe der Frage nach dem verschwundenen Original-Testament bekommt Sylvie Schenks Roman noch einen zusätzlichen Spannungsbogen, der sich klug und subtil bis zum Ende des Buches durchzieht.
Rita Mielke
Sylvie Schenk: Eine gewöhnliche Familie. München: Hanser. 2018. 160 S., 18,- Euro