Dieser Roman widersetzt sich jeder schnellen Zuordnung zu den Trends und Themen der aktuellen Literatur. Und doch führt er mitten hinein ins Herz unserer Zeit und zu Fragen, die uns alle berühren. Husch Josten erzählt in „Land sehen“ die Geschichte von Horand Roth, Literaturprofessor seines Zeichens und bekennender Agnostiker, der seine Tage schreibend und forschend in einem kleinen Haus in der Eifel verbringt. Ein Anruf mitten in der Nacht ist es, der ihn zu Beginn der Geschichte um den Schlaf und seine Ruhe bringt. Der Anruf kommt aus Argentinien. Der Anrufer ist niemand anders als sein Patenonkel Georg, der Bruder von Horands Mutter, zu dem es seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr gab. Über die Distanz von Tausenden von Kilometern offenbart er seinem Neffen, dass er jetzt „Bruder Athanasius“ heißt, Mönch geworden und der umstrittenen, weil radikalen Piusbruderschaft beigetreten ist.
Horand, der den Patenonkel in Kinderzeiten wegen seiner fröhlichen Unbeschwertheit und Lebenslust geliebt und den Grund für das plötzliche Verschwinden damals niemals begriffen hat, ist zunächst wie vor den Kopf geschlagen. Als Georg dann wenig später aus Südamerika zurückkehrt und bei Horand vor der Tür steht, beginnt für die beiden Männer ein vorsichtiger und langsamer Prozess der Wiederannäherung. Dabei geht es für Horand um ganz konkrete Fragen: Wie hat Georg in den vergangenen Jahrzehnten gelebt? Was war der Grund, weshalb er nach einem Streit mit Horands Eltern weggegangen und nie zurückgekommen ist? Und was hat ihn in die Arme ausgerechnet der traditionalistischen Piusbruderschaft getrieben, die sich in der Eifel, in Kloster Reichenstein, eine neue Niederlassung geschaffen hat? In den Gesprächen der beiden Männer geht es um Glauben und Unglauben, um Freiheit, die man aushalten, und soziale Strukturen, in deren vermeintliche Sicherheit man sich flüchten kann. Und es geht um die Horand bis dahin völlig verborgene Geschichte seiner Familie, zu der neben seiner Mutter und seinem Onkel auch noch Wolfgang gehörte, der älteste der Geschwister, 1933 geboren und geistig behindert – und der eigentliche Grund für alles!
Der Kölner Autorin gelingt es bravourös, spannende philosophische Reflexionen mit einer ungeheuerlichen Familiengeschichte zu verbinden. Die Fragen, die das Buch stellt, lassen keinen Leser unberührt. Die Geschichte, die es erzählt, rührt auch Hartgesottene zutiefst. Dabei findet sie eine Sprache und einen Erzählstil, die bei aller Klugheit ebenso lakonisch wie schnörkellos und leichtfüßig sind. Husch Josten weiß um die Ratlosigkeit, mit der viele Menschen heute einer immer komplexer und komplizierter werdenden Gegenwart begegnen. Ihr Roman rettet sich nicht in blinden Optimismus, wagt aber einen perspektivisch positiven Blick nach vorn, wie ihn der Titel des Buches suggeriert: „Land sehen“!
Rita Mielke
Husch Josten: Land sehen. München/Berlin: Berlin Verlag, 2018. 238 S., 20,- Euro