Ein kleines Haus, abgelegen, einsam, irgendwo in Sussex im Süden Englands in den 1930er und 1940er Jahren. Dort lebt Gwendolyn – Len – Howard (1894 – 1973), und mit ihr leben dort Fips und Sternchen und Glatzköpfchen und Grauröckchen und viele, viele andere Kohlmeisen. Die Vögel sind für die exzentrische Engländerin die liebsten Lebensgefährten. Wenn sie in ihrer Nähe ist, vermisst sie die Menschen nicht, im Gegenteil: Sie betrachtet es als großes Glück, dem hektischen Leben in London und ihrer Arbeit als Orchestergeigerin den Rücken kehren und sich nur auf die Beobachtung der Tiere konzentrieren zu können. Wie die Tiere kommunizieren, wie sie interagieren, wie sie reagieren, all das beobachtet Len Howard und notiert es akribisch, zunächst nur in kleinen Notizbüchern, später in einer Kolumne für eine englische Zeitschrift, noch später in Büchern, die Bestseller-Status haben. Aber der Erfolg ist nicht von Dauer. Als Len Howard stirbt, ist sie fast schon eine Vergessene: In der Wissenschaft hat sie nie Fuß fassen können, da sie keine akademische Ausbildung hat, sich heftig gegen jede Form von „Laborstudien“ an Tieren zur Wehr setzt und als Frau mit exzentrischer Lebensweise per se nicht ernst genommen wird.
Die Lebensgeschichte der Vogelkundlerin Len Howard hat die niederländische Autorin und Philosophin Eva Meijer jetzt zum Gegenstand eines Romans gemacht. Die wenigen Fakten, die bekannt sind, und die Texte, die sie verfasst hat, verwebt sie dabei mit ihrer Fiktion und entwirft dabei das Bild einer Frau, die sich aus den Zwängen der Konventionen ihrer Zeit befreite und sehr eigene Wege ging, auf denen selbst Familie und Freunde ihr nicht zu folgen vermochten. Die selbst gewählte Isolation, die von Len Howard nicht als Fluch, sondern als Segen empfunden wurde, eröffnete ihr die Chance einer einzigartigen Nähe zur Natur und einer intimen Verbundenheit mit ‚ihren‘ Vögeln, zu denen sie seit Kindertagen eine besondere Beziehung hatte.
Dass gerade Eva Meijer diese vergessene Vogelkundlerin wieder entdeckt hat, wundert nicht, denn Meijer hat sich bereits in einem ihrer früheren, hoch gelobten Bücher mit den „Sprachen der Tiere“ befasst. Darin plädiert sie nachdrücklich für eine Korrektur unserer Vorstellung von den ‚eingeschränkten‘ Kommunikationsmöglichkeiten und Sprachfähigkeiten der Tiere.
Und es ist wohl auch kein Zufall, dass das Buch gerade jetzt veröffentlicht wird: Denn so intensiv wie lange nicht mehr erobert aktuell die Natur die Literatur, widmen Autorinnen und Autoren wie Helen McDonald, Maja Lunde, Richard Powers oder Martin Windrow Bienen und Vögeln, Wäldern und Bäumen ihre literarische Aufmerksamkeit. In dieser neuen ‚Natur-Literatur‘ nimmt Eva Meijers Roman einen bedeutsamen Platz ein.
Rita Mielke
Eva Meijer: das Vogelhaus. München: btb. 2018. 314 S., 20,- Euro