Es ist bemerkenswert: In allen großen Religionen und Kulturen gilt die Gastfreundschaft als heilig. Den Gast, ob Fremder oder Freund, zu empfangen, ihm Speis und Trank und einen Platz an der Tafel zu gewähren, folgt den ungeschriebenen Gesetzen des menschlichen Miteinanders und zeugt von Humanität und hoher sozialer Kompetenz. Dies umso mehr, als die Verhaltensforschung längst nachgewiesen hat, dass unsoziales, feindseliges Verhalten gegenüber Angehörigen fremder Gruppen als tief in der menschlichen Evolution verankerter Impuls anzusehen ist.
Was Gastfreundschaft ausmacht, was sie – und wie sie - sein kann, das hat die britisch-kenianisch-indische, inzwischen in Deutschland lebende Autorin Priya Basil in einem
eindrucksvollen kleinen Buch thematisiert. Sie sei eine jener zeitgenössischen Schriftstellerinnen, deren Leben nicht zwischen zwei Buchdeckel passt, da es einfach zu unglaublich sei, hat das englische Magazin „Wired” über die 1977 in London geborene und dann in Nairobi aufgewachsene Autorin geschrieben. Wer, wenn nicht eine Frau wie sie, die sich leidenschaftlich für Europa, für Freiheit und Demokratie und eine postmigrantische Gesellschaft engagiert, wäre prädestiniert für das Nachdenken über Gastfreundschaft in Zeiten von Flüchtlingsströmen und multikultureller Vielfalt. Nie waren so viele Menschen, freiwillig oder unfreiwillig, unterwegs, nie gab es so viele Möglichkeiten, den Umgang mit dem Gast und mit Gastfreundschaft weltweit zu vergleichen! Priya Basil erzählt in ihrem Buch von einer unerwarteten Einladung zum Spargelessen und einer Massenspeisung in einem Sikh-Tempel mitten in Berlin. Sie berichtet von der Einladung zum Essen im Restaurant, wo Gast und Gastgeber gemeinsam bekocht werden, aber lädt auch an den eigenen Esstisch ein. Sie reist mit ihren Lesern an die indische Tafel der Mutter und an die „Tafel“ nach Essen. Sie reflektiert über exzessive Gastfreundschaft und über Gastfeindlichkeit inmitten kulinarischen Überflusses. Und immer wieder geht es auch um Grundsätzliches – um die Frage zum Beispiel, warum Kommunikation am gedeckten Tisch bei einer anregenden Gästerunde und leckerem Essen anders - besser - verläuft als am nüchternen Konferenztisch.
Zu den schönsten und eindringlichsten Passagen des Buches gehören jene, in denen Priya Basil darüber nachdenkt, weshalb sie eine geradezu neurotische Angst davor hat, dass das Essen nicht reichen könnte, nicht für ihre Gäste – aber auch nicht für sie selbst: „Die Augen mal wieder größer als der Magen”, lautet, so erfahren wir, seit Kinderzeiten der Kommentar ihrer Mutter dazu.
Die großen politisch-gesellschaftlichen Facetten des Themas mit den vermeintlich banalen, kleinen Beobachtungen des Alltags zu verbinden, macht das Besondere dieses Buches aus. Im Übrigen beginnt es mit einem Satz, der vielleicht wie kein anderer die ganze Fülle des Themas impliziert: „Ich lade Euch ein“!
Rita Mielke
Priya Basil: Gastfreundschaft. Berlin: Insel. 2019. Insel-Bücherei Nr. 1462. 136 S., 14,00 Euro.