Wenn Literatur ein Seismograph ist für Stimmungen und Strömungen des Zeitgeists, stehen derzeit alle Zeichen auf ein „Zurück zur Natur“: In Serie erscheinen seit geraumer Zeit Romane, in denen Bäume und Wälder in die Rolle von Protagonisten gehoben und deren herausragende Rolle für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betont werden. Dazu passt der neueste Trend, der vom „Waldbaden“, also vom tiefen Eintauchen in das Grün, in die Stille, in den Duft des Waldes Heilung für die strapazierte Seele und die abgestumpften Sinne verspricht. Was geschieht da – in der Gesellschaft wie in der Literatur? Zwei Ursachen lassen sich im Wesentlichen für die derzeitige Wald-Euphorie ausmachen: Zum einen geht es dabei um den Wald als Sehnsuchts- und Fluchtort, um eine Alternative zu den nüchternen Betonwüsten der Städte, zum Stress des Alltags, zur Entmenschlichung in einer zunehmend digitalisierten Welt. Hinzu kommt die wachsende Sorge um die Natur, um Wälder und Bäume, die allerorten Opfer einer gnadenlosen Umweltzerstörung werden.
Vor diesem Hintergrund bilden Romane von Richard Powers und Marie Darrieussecq ein spannendes, aufschlussreiches Lesevergnügen. „Die Wurzeln des Lebens“ des Amerikaners Richard Powers wurde in deutscher Übersetzung im letzten Jahr veröffentlicht, als die Proteste im Hambacher Forst gerade in ihre heiße Phase eingetreten waren. Bei Powers stehen neun Personen im Mittelpunkt, die versuchen, einen Wald zu retten. Jede Figur steht auf jeweils individuelle Art mit den Bäumen in Beziehung und hat ein „Baumerlebnis", dass ihn zum Kampf für die Rettung bedrohter Mammutbäume inspiriert. Manche Passagen des Buches lesen sich, als sei Powers im Hambacher Forst an vorderster Front mit dabei gewesen.
Marie Darrieussecqs dystopischer Roman „Unser Leben in den Wäldern” entfernt in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der es dank implantierter Technik ganz normal ist, ständig „online” und rundum überwacht zu sein, in der Klone als Ersatzteillager für menschliche Organe dienen und die Grenzlinie zwischen KI-Affen und Menschen zu verschwinden droht. Die Psychiaterin Marie steigt aus dieser Welt aus und begibt sich zu einer Gruppe von Menschen, die Zuflucht gesucht haben in der Gegen-Offline-Welt des Waldes. Darrieussecqs Roman liest sich als Warnung vor den Gefahren aktueller technischer und sozialer Entwicklungen, zugleich aber auch – die Autorin ist selbst Psychoanalytikerin – vor zeitgenössischen pseudopsychologischen Methoden der Selbstoptimierung. In beiden Fällen wird der Wald zum menschlichen Refugium, zum Rettungsanker für den gefährdeten Menschen, gerade so, wie es schon in den 1930er Jahren Erich Kästner formuliert hat: „Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden/und tauscht bei ihnen seine Seele um./Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm./Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.“
Rita Mielke
Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens. Frankfurt 2018. 624 S., 26 Euro
Marie Darrieussecq: Unser Leben in den Wäldern. Zürich 2019. 110 S., 18 Euro