Ein Hauch von Harper Lee („Wer die Nachtigall stört“) liegt über diesem Roman, der zu den eindringlichsten „Coming-of-age“-Romanen der jüngeren Zeit gehört. William Kent Krueger, in den USA als Krimiautor bekannt, ist mit „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ zum New-York-Times-Bestsellerautor aufgestiegen. Der Roman ist in den 1960er Jahren in dem kleinen Städtchen New Bremen angesiedelt, einem Ort im Nordosten des Landes, in der Nähe der „Twin Cities“ Minneapolis und Saint Paul. Erzählt wird aus der Perspektive von Frank Drum, der aus dem Abstand von 40 Jahren auf seine Kindheit in diesem Ort zurückblickt: Er selbst war zum Zeitpunkt des Geschehens 13, sein Bruder Jake zwei Jahre jünger. Der Vater Nathan ist Pastor der Methodistengemeinde, die Mutter Ruth kümmert sich um Gemeindebelange und die Familie, zu der noch die bald achtzehnjährige Schwester Ariel gehört. Der Ort ist klein und überschaubar, jeder kennt jeden und die Kinder spielen in großer Freiheit am Fluss, an den Bahnschienen, in den Feldern.
Aber die Idylle trügt: „Es war ein Sommer, in dem uns der Tod in vielen Gestalten heimsuchte. Als Unfall. Als natürliches Phänomen. Als Selbstmord. Als Mord“, heißt es gleich zu Beginn des Buches. Alles beginnt mit dem tragischen Unfalltod des kleinen Bobby. Oder war es womöglich gar kein Unfall? Gerüchte kommen auf über dunkle Gestalten, die sich an den Bahngleisen herumtreiben. Und ganz dicht unter der scheinbar heilen Fassade keimen Vorurteile, Rassismus, Neid, Snobismus, üble Nachrede.
Auch in der Familie Drum tun sich Risse auf, der Vater ist vom Krieg traumatisiert, die Mutter leidet unter ihrem Dasein als Pastorenfrau, Bruder Jake stottert. Gus, ein Freund und ehemaliger Kriegskamerad des Vaters, lebt als gescheiterte Existenz in einem Kellerraum unter der Kirche. Ein Freund der Familie und ehemaliger Verlobter Ruths, der geniale Musiker Emil Brandt, ist versehrt und blind aus dem Krieg gekommen, seine Schwester Lise, die ihm seither den Haushalt führt, autistisch und taub. Überall kleine Tragödien hinter den Alltagsfassaden. Und dann verschwindet auch noch Ariel, Franks Schwester…
Als erfahrener Krimischreiber versteht William Kent Krueger es, die Handlung des Romans hoch spannend und mit immer neuen Wendungen zu erzählen. Das sorgt für den hohen Lese- und Unterhaltungswert des Buches. Wie es ihm darüber hinaus gelingt, das Erwachsenwerden des Jungen Frank zu beschreiben, seine kindlich-naive und zugleich so ernsthafte Annäherung an Fragen von Schuld und Verantwortung und insbesondere auch die brüderliche Beziehung zwischen Frank und Jake, das zeugt von außerordentlichem psychologischen Feingefühl ebenso wie von einem wunderbaren Erzähltalent. Wenn der Tod ins Leben tritt, fordert er auch von den Jungen seinen Tribut. Wie man daran wachsen und erwachsen werden kann, erzählt auf anrührend-eindringliche Weise dieser Roman, und zugleich jenseits aller leisen Tragik auch von dem, was ein Leben lebenswert macht, gerade weil es so angreifbar und fragil ist.
Rita Mielke
William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich. München: Piper. 2019. 415 S., 22,- €