Zu dem sprachlichen Erbe, das die Franzosenzeit in der deutschen Sprache zurückgelassen hat, gehört neben Begriffen wie „Trottoir“ oder „Plumeau“, die zumindest der Großelterngeneration noch absolut vertraut waren, auch das Wort „Bagage“. Wenn die ganze „Bagage“ anrückte, war das eine wenig charmante Umschreibung für eine Gruppe nicht unbedingt geschätzter Familienmitglieder, Nachbarn, Bekannter. Ausgerechnet diesen inzwischen eher selten noch zu hörenden Begriff hat Monika Helfer als Titel für ihre Familiengeschichte gewählt, die in den Anfang des 20. Jahrhunderts und in ein kleines, entlegenes Vorarlberger Bergdorf entführt. Die Bagage – das sind Josef und Maria (!!) Moosbrugger und deren sieben Kinder, die am Rand des kleinen Ortes leben und von der Dorfgemeinschaft weitgehend gemieden werden. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss Vater Josef in den Krieg und lässt seine „überirdisch schöne“ Frau und (zu diesem Zeitpunkt) vier Kinder zurück. Der Bürgermeister, ein enger Freund Josefs, soll ein Auge auf die Familie halten und sich um deren Wohlergehen kümmern. Das tut er gern – und umso lieber, als er sich von der Schönheit Marias ausgesprochen angezogen fühlt. Und dann kommt auch noch Georg, aus dem fernen Hannover, der so gutaussehend ist, zudem lupenreines Hochdeutsch spricht und Marias Ausstrahlung ebenfalls erliegt. Als Maria Margarete zur Welt bringt, die Mutter der Ich-Erzählerin, macht schnell das Gerücht die Runde, dieses Mädchen sei nicht, könne nicht Josefs Tochter sein. Mit dramatischen Folgen: Denn Josef, eigentlich ein Familienmensch und seinen Kindern zugetan, wird, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt ist, mit Margarete nicht ein einziges Wort wechseln…
Die Österreicherin Monika Helfer, mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier verheiratet und selbst als Autorin seit vielen Jahren erfolgreich, hat mit diesem kleinen, feinen Roman ein Kapitel der eigenen Familiengeschichte abgearbeitet. Denn Maria und Josef – das sind ihre eigenen Großeltern, Margarete ihre Mutter. Wie Helfer aus Familiengeschichte, erinnerten eigenen Versatzstücken und Fiktion eine eindringliche Geschichte webt, wie sie dabei auf die Kunst der Aussparung setzt und vieles im Vagen subtiler Andeutungen belässt, das verleiht ihrem Roman den besonderen Ton. Was das Ausgegrenztsein mit der Familie Moosbrugger tut, wie es den Zusammenhalt, aber auch die Verwerfungen in der Familie befördert, wie sich die emotionalen Bande zwischen Josef und Maria verändern und wie zwischen Maria und ihren Kindern: All das vermittelt der Roman in einer ebenso feinen wie dichten Komposition, bei der „zwischen den Zeilen“ genauso viel transportiert wird wie in den einzelnen Absätzen des Buches selbst. Monika Helfers Fokus liegt dabei nicht auf einer Schilderung des schweren Lebens auf dem Land, auch nicht auf der Auseinandersetzung mit den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Sie richtet den Blick behutsam auf die Binnenwelt einer – ihrer – Familie. Deren Dramatik zu entschlüsseln, überlässt sie in eindrucksvoller Weise ihren Leserinnen und Lesern.
Rita Mielke
Monika Helfer: Die Bagage. München: Hanser. 2020. 160 S., 19.- €