Lisette Winter, 1888, im Drei-Kaiser-Jahr, in Wiesbaden geboren, könnte eine Schwester von Effi Briest sein: Wild, ungebärdig, von einem enormen Freiheitsdrang beseelt, fällt es ihr ausgesprochen schwer, sich in die gutbürgerlichen Konventionen ihrer Zeit einzufügen. Statt sittsam gute Manieren und weibliche Tugenden zu pflegen, wühlt sie mit dem Gärtner in den Blumenrabatten und begeistert sich mit zunehmendem Alter für edle Stoffe, schöne Schnitte und leuchtende Farben. Je nachdrücklicher Mutter Dora sie in ein Korsett zwängen will, real und gesellschaftlich, desto mehr isoliert sie sich von ihrer Familie, in der nicht einmal die beiden älteren Brüder sie verstehen. Dann aber lernt sie Emile kennen, den jungen Schneider, der ihr die Tür öffnet in eine Welt, in der fließende Reformkleider ohne Korsett und praktische Hosenkleider die modische Antwort auf einen neuen Zeitgeist darstellen. Als die familiäre Situation immer prekärer und die anstehende Verlobung mit einem ungeliebten Baron immer unausweichlicher wird, beschließt Lisette zu fliehen und mit Emile ein neues Leben zu beginnen…
Astrid Ruppert erzählt in „Leuchtende Tage“ weibliche Emanzipationsgeschichte am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Modegeschichte dieser Zeit. Es ist Lisettes Urenkelin Maya, die – selbst auf der Suche nach ‚ihrem‘ Platz im Leben - den Spuren der mutigen Vorfahrin nachgeht, über deren Lebensgeschichte weder Mayas Mutter Paula noch ihre Großmutter gern Auskunft geben wollen. Anschaulich beschreibt Astrid Ruppert, wie sich noch vor ein paar Generationen männliche und weibliche Weltsicht an der Frage nach „schicklicher“ Kleidung und „natürlicher“ Rollenverteilung messen lassen musste, wie die schlimmsten Feinde weiblichen Aufbruchs keineswegs nur die Männer, sondern auch ‚wohlmeinende‘ Mütter und um den „guten Ruf“ der bürgerlichen Töchter bemühte Damen der hochwohlgeborenen Gesellschaft waren. Sich davon frei zu machen, neue – modische – Wege zu beschreiten und neue Lebenskonzepte zu erproben, erforderte Mut und einen starken Willen. Lisette gelingt es, sich zu befreien, mit Emile an ihrer Seite zur erfolgreichen Geschäftsfrau aufzusteigen und eine ‚moderne‘ Familie zu gründen. Dafür bezahlt sie mit dem Bruch mit ihrer eigenen Familie. Und dann kommt der Erste Weltkrieg und verändert alles…
Astrid Ruppert erzählt unterhaltsam und verknüpft mit leichter Hand historische Fakten, etwa über die Modegeschichte der damaligen Zeit, mit dem individuellen Schicksal ihrer Protagonistinnen. „Leuchtende Tage“ ist der erste Band einer Trilogie, in der es um fünf Generationen von Müttern und Töchtern der Familie Winter geht. Und wer nach der Lektüre des ersten Bandes nur ungern Abschied von diesen so unterschiedlichen Winter-Frauen nehmen mag, darf sich freuen: Denn schon im Oktober wird der zweite Band, „Wilde Jahre“, erscheinen – und da rückt Mayas lebenshungrige Mutter Paula in den Mittelpunkt, die aus dem biederen Dasein ihres hessischen Heimatdorfes in das ‚wilde‘ Londoner Leben flieht…
Rita Mielke
Astrid Ruppert: Leuchtende Tage. München: dtv. 2019. 474 S., 15,90 €