Hand aufs Herz: Wenn Sie zurückdenken an Ihren Deutschunterricht in der Schule: Wie viele Autorinnen sind Ihnen dort begegnet? Katharina Herrmann, Autorin eines neuen Sammelbandes über „Dichterinnen & Denkerinnen“ im Reclam-Verlag, beginnt mit genau dieser Frage ihre Einleitung und gesteht: „Als Schülerin nahm ich an, es hätte vor 1900 neben Annette von Droste-Hülshoff praktisch keine Schriftstellerinnen gegeben.“ Es ist die Krux der denkenden und schreibenden Frauen: Zunächst mussten sie sich in ihrer Zeit über vielfältige Widerstände hinwegsetzen, um überhaupt ernsthaft kreativ werden zu können: Schule und Studium waren ihnen lange verwehrt; Gedichte, Romane, Theaterstücke zu verfassen, galt für Frauen als absolut unschicklich und brachte sie als „Blaustrümpfe“ in Misskredit. Wenn sie es dennoch schafften – der schöne Untertitel des Buches lautet: „Frauen, die trotzdem geschrieben haben“ –, leisteten Literaturgeschichtsschreibung und literarische Kanonbildung ein weiteres Mal ganze Arbeit: Autorinnen fielen bei der Würdigung der literarischen Leistungen der verschiedenen Epochen systematisch durchs Raster. Mit dem Ergebnis, dass – bis heute – schreibende Frauen der frühen Epochen und deren Leistungen weitgehend unbekannt sind. Katharina Herrmann versammelt in ihrem Buch zwanzig Schriftstellerinnen-Porträts, beginnend mit der Gottschedin, Luise Gottsched, die als Reformerin des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert für Furore sorgte, und endend mit Mascha Kaléko, heute gottlob keine Unbekannte mehr, aber in der Literaturgeschichte wegen ihrer eingängigen „Gebrauchslyrik“ lange nur mit spitzen Fingern abgehandelt. Wie unterschiedlich im Einzelnen die Lebensgeschichten schreibender Frauen auch sein mochten: Was sie alle verbindet, ist das Bewusstsein, wenigstens über diesen (schreibenden) Teil ihrer Existenz selbständig und allein verfügen zu können, unabhängig von allen sonstigen Repressalien. Dass jede schreibende Frau zu allen Zeiten ein Vielfaches an Energie, Mut, Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen im Vergleich zur männlichen Konkurrenz benötigte, verdient allein schon Respekt. Welche Leistungen Frauen wie Johanna Schopenhauer, Rahel Varnhagen, Helene Böhlau oder Franziska zu Reventlow in ihrer Zeit und für die Literaturgeschichte erbracht haben, gilt es zumeist noch zu würdigen. Einen nachdenklich stimmenden und zugleich anregenden Anstoß dazu gibt der vorliegende Band von Katharina Herrmann. Die bemerkenswerten Illustrationen zu diesem Buch hat die Münchner Grafikdesignerin Tanja Kischel beigesteuert. Ihnen und der schönen Ausstattung des Buches ist es zu verdanken, dass die „Dichterinnen & Denkerinnen“ es auf die Shortlist für „Die schönsten deutschen Bücher 2020“ geschafft haben. Rita Mielke
Rita Mielke
Katharina Herrmann: Dichterinnen & Denkerinnen. Frauen, die trotzdem geschrieben haben. Stuttgart: Reclam. 2020. 238 S., 20,- €