Die Suche nach wenig abgenutzten Durchhalteparolen fällt allmählich schwer in diesen Tagen… und doch besteht ja berechtigte Hoffnung, dass ein Ende dieser kultur- und begegnungsarmen Zeit in Sichtweite rückt. Bis dahin kann es hilfreich und ausgesprochen wohltuend sein, den Kopf einfach lesend auf Reisen zu schicken. Das lenkt ab und relativiert manches aktuelle Unbehagen! Gottlob sind die Frühjahrsneuerscheinungen wunderbar vielseitig und abwechslungsreich. Da kommt keine Lese-Langeweile auf. Einige Empfehlungen aus den aktuellen Programmen von Rita Mielke.
München: dtv. 2021. 528 S., 20,00 €
Ein unbedingtes „must read“ in diesem Frühjahr: Susanne Abels Debütroman erzählt die Geschichte der betagten und zunehmend dementen Grete, deren Sohn Tom ein prominenter Fernsehmoderator ist. Der hatte bislang wenig Zeit für seine Mutter, muss sich aber jetzt immer häufiger um sie kümmern und gerät zunehmend in den Sog der Geschichten aus ihrer Jugend, die sie zuvor nie erzählt hat: die Flucht aus Ostpreußen, die neue Heimat in Heidelberg, die Liebe zu Bob, dem dunkelhäutigen GI. Warum hat Grete nie von ihm gesprochen? Was ist aus ihm geworden? Und wer ist das kleine Mädchen, das Tom auf einer alten Fotografie mit seiner Mutter entdeckt? Spannend wie ein Krimi ist die Spurensuche, auf die Tom sich begibt. Schicht um Schicht legt er dabei ein vergessenes Kapitel nachkriegsdeutscher Geschichte frei, das sich nahtlos einreiht in die Geschichten von Heimkindern, wie sie wiederholt in jüngster Zeit recherchiert und literarisch aufgearbeitet wurden. Susanne Abel verpackt eindringlich, aber mit leichter Hand, einen Stoff, der selbst hartgesottene LerserInnen zu erschüttern und aufzuwühlen vermag.
München: Hanser. 2021. 382 S., 25,00 €
Wann eigentlich haben Plus und Minus, die Null und die Ziffern von Eins bis Neun ihren Einzug in die europäische Geisteswelt gehalten? Wann wurde die Zahlensprache zur selbstverständlichen Kulturtechnik? Diesen Fragen ist der Berliner Wissenschaftsjournalist Thomas de Padova in einem erzählenden Sachbuch nachgegangen. Für ihn hat sich in der Renaissance eine wahre Revolution vollzogen, die sich durch die Abkehr von den bis dahin gültigen römischen Ziffern und die Übernahme der aus der arabischen Geisteswelt stammenden Zahlschrift auszeichnete. Dahinter steckte nicht der Geniestreich eines Einzelnen, sondern eine enorme Gemeinschaftsleistung von Gelehrten, Kaufleuten, Architekten, Künstlern und Theologen, darunter auch Prominente wie Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer. Der Aufstieg der Mathematik zur „Königin der Wissenschaften“ in der Renaissance bereitete den Boden für die Bedeutung, die die Sprache der Zahlen heute in allen Bereichen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens spielt: Ob Klimawandel, Pandemie oder politisches Stimmungsbild: Keine Sprache ist mächtiger als die der Zahlen. Ein grandioses Buch für alle, die Zahlen lieben (lernen wollen).
München: Droemer. 2020. 208 S., 20,00 €
Nichts vermittelt vielleicht mehr das Gefühl von Einsamkeit, als am Herd zu stehen und für sich allein eine Mahlzeit zuzubereiten. Diese Erfahrung machen auch die Protagonistinnen in Karin Kalisas neuem Roman, der in einem Dorf irgendwo im Voralpenland angesiedelt ist, aber genauso gut in jedem anderen Dorf spielen könnte. Und dann rafft sich eine auf, klingelt bei der Nachbarin und bittet um eine Tasse Mehl – und löst damit einen wahren „Umsturz“ aus. Denn fortan kochen die verwitweten Frauen zu zweit, dann zu dritt, zu viert… Irgendwann reichen die kleinen privaten Küchen nicht mehr aus: Aber da gibt es ja noch das ehemalige Wirtshaus, in dem jetzt syrische Flüchtlinge leben. Da könnte man doch…? Wie aus einem halbvollen Kübel Bergsalz, einer alten Immobilie und der Initiative einiger kühner Frauen eine Graswurzelbewegung ganz eigener Art entsteht, erzählt Karin Kalisa mit ungeheurer Warmherzigkeit, einem feinen Augenzwinkern und jeder Menge Mutmachpotential…
Köln: emons. 2021. 448 S., 18,00 €
Man muss sich Marc Voltenauer als einen absoluten Genussmenschen vorstellen, sonst könnte er seinen Roman niemals mit so beeindruckenden Schilderungen guten Essens, einer köstlichen Zigarre, eines vollmundigen Weins würzen. Dass er zudem als studierter Theologe bibelfest ist, kommt diesem Krimi ebenfalls zugute: Denn der Mörder, der in dem beschaulichen Alpendorf Gryon den örtlichen Immobilienhändler grausam ermordet und dann auf dem Altar der Kirche drapiert hat, scheint mit seinem Tun nicht weniger als teuflischen Zorn und göttliche Rache beschwören zu wollen. Kriminalkommissar Andreas Auer, mit seinem Partner selbst in Gryon beheimatet, ahnt, dass es bei diesem einen Toten nicht bleiben wird, und behält recht… Religiöse Irrwege und die Strukturen eines Dorfes, in dem falsch verstandener Gemeinsinn dazu führt, dass auch Unrecht unter den Teppich gekehrt wird, sind die wesentlichen Ingredienzen dieses stimmigen, gut erzählten Krimis, von dem man sich durchaus die eine oder andere Fortsetzung wünschen würde.
München: Piper. 2021. 222 S., 22,00 €
Wer die Toskana liebt, wird dankbar in dieses Buch und seine stimmungsvoll-atmosphärischen Schilderungen eintauchen. Und wer Geschichten mag, die einen am Ende – mit dem Ende – überraschten und ein bisschen angerührt zurücklassen, wird diesen Roman lieben: Es ist die Geschichte eines Mannes in mittleren Jahren, Phillip Dorn, der sich nach dem Ende einer Beziehung nach Italien zurückzieht, dorthin, wo seine inzwischen verstorbene Mutter einst eine große, aber unglückliche Liebe erlebt hat. Das eigene Leben, das der Mutter und das einstige Familienleben lässt Dorn Revue passieren, lotet komplexe und komplizierte Gefühlslagen aus und fühlt sich auf eigenartige Weise wohl bei den nächtlichen Gesprächen, die er in schöner Regelmäßigkeit mit seiner lebensklugen italienischen Nachbarin führt. Dass die Begegnung mit ihr alles andere als ein Zufall ist, überrascht Phillip Dorn ebenso wie die LeserInnen von Bayers frühlingshaft gefühlvollem Roman!