Rita Mielke ist Literaturwissenschaftlerin, Journalistin, Buch-autorin, Kulturmanagerin. Sie arbeitet regelmäßig für den Hörfunk, organisiert seit mehr als zehn Jahren das Lesefestival „Korschenbroich liest“ und das niederrheinweite „HORIZONTE“-Literaturprogramm. Im DUDEN-Verlag hat sie jetzt – nach dem „Atlas der verlorenen Sprachen“, der 2020 erschienen ist - ein weiteres Buch veröffentlicht.
IN: Ziemlich genau vor einem Jahr haben wir uns mit Ihnen an dieser Stelle über den „Atlas der verlorenen Sprachen“ unterhalten. Jetzt ein neues Buch – noch ein Corona-Baby?
Mielke (lacht): Ja, Mehrfachtäterin! Im Ernst: Eigentlich ist die Idee für das neue Buch schon bei der Arbeit am „Atlas“ entstanden. Da ging es ja vor allem um die Frage, weshalb so viele Sprachen auf der Welt vom Aussterben bedroht sind. Mein neues Buch „Als Humboldt lernte, Hawaiianisch zu sprechen“ schaut eher auf den Anfang.
IN: Inwiefern?
Mielke: Nun ja, wir kennen alle die Erfahrung, wie man sich in einem Land fühlt, wo man kein Wort versteht und sich selbst nicht verständlich machen kann. Das genau war die Situation aller frühen Abenteurer, Entdeckungsreisenden, Händler und Missionare, die aufgebrochen sind und fremde Weltgegenden angesteuert haben. „Kannitverstan“, wie es in einer Geschichte von Peter Hebel so treffend heißt. Aber aus dieser Ur-Erfahrung babylonischer Sprachverwirrung ist etwas für unsere Kulturgeschichte Fundamentales entstanden. Ihr verdanken wir nämlich riesige Bibliotheken von Wörterbüchern, den Beruf des Übersetzers und Dolmetschers – und eine Idee davon, wie wichtig es ist, fremde Sprachen zu erlernen.
IN: Und wie haben Sie sich dem Thema genähert?
Mielke: Ich habe mich auf die Suche gemacht nach Geschichten, die solche frühen Sprachbegegnungen anschaulich machen. Das beginnt bei Karl dem Großen, der einen jüdischen Kaufmann, Isaak, mit auf die Reise seiner Gesandtschaft zu Harun ar-Raschid schickte, weil Isaak reiseerfahren war und als Dolmetscher zwischen den deutschen Rittern und dem Kalifen fungieren konnte. Als Beispiel einer tragischen Liebesgeschichte erzähle ich von dem Hamburger Kaufmann Ruete, der sich im späten 19. Jahrhundert in Sansibar in eine Prinzessin verliebte – er sprach nur Deutsch, sie Kiswahili. Aber aus Liebe zu dem Deutschen lernte sie dessen Sprache, ließ sich taufen und zog mit ihm ins kalte Hamburg, wo ihr Mann dann nach wenigen Ehejahren verstarb. Abenteuerlich sind die Erlebnisse von Hermann Consten aus Aachen, der als Autodidakt Mongolisch lernte und in der Inneren Mongolei als erster und bis heute einziger Westeuropäer in den Fürstenrang erhoben wurde. Sein handgeschriebenes Wörterbuch wartet noch heute in der Staatsbibliothek in Berlin darauf, ausgewertet zu werden.
IN: Auf wie viele solcher Geschichten sind sie gestoßen?
Mielke: Es gibt Hunderte, Tausende solcher spannenden Sprach- bzw. Sprecherbegegnungen. Ich habe 42 ausgewählt, die sich auf zwölf Jahrhunderte und Schauplätze auf allen fünf Kontinenten verteilen. Sie sollen exemplarisch zeigen, welch fundamentale Bedeutung die Sprach-Verständigung in den unterschiedlichsten Lebenssituationen für Menschen hatte – und hat, bis heute.
IN: Kommen bei der Auswahl Ihrer Geschichten eigentlich auch Frauen vor? Die frühen Entdeckungsreisenden waren ja eigentlich immer Männer!
Mielke: Ehrlicherweise habe ich mir am Anfang meiner Recherchen darüber auch Sorgen gemacht. Aber erstaunlicherweise gibt es in der Geschichte doch auch jede Menge abenteuerlustiger Frauen, von denen viele allerdings eher im Schatten der prominenten Männer stehen. Einige kommen in meinem Buch zu Wort, Alexandra David-Néel zum Beispiel, die als erste Frau und Europäerin das „Dach der Welt“ in Tibet erreichte, oder Luise Hercus, die in Deutschland geborene Sprachforscherin, die ihr Leben der Erforschung der Sprachen der australischen Aborigines gewidmet hat.
IN: Sie nennen in Ihrem Buch ja auch Beispiele für Wörter, die „auf Wanderschaft“ gegangen sind.
Mielke: Ja, das ist ja das Spannende an Sprache, dass sie immer in Veränderung ist, dass Wörter verschwinden, aber immer neue hinzukommen. Das Deutsche ist zum Beispiel voll von Wort-„Immigranten“ aus den entlegensten Sprachen der Welt: Aus dem Samoanischen etwa stammt das Wort „Tattoo“, aus dem Tamilischen Begriffe wie „Curry“ oder der „Katamaran“, aus dem Hindi das Wort „Bungalow“. Umgekehrt haben deutsche Wörter auch Eingang in andere Sprachen gefunden, sehr kurios zum
Beispiel im Inuktitut, der Sprache der Inuit. Sie haben von deutschen Missionaren die Wörter „minuti“ und „sekundi“ und andere Zeiteinheiten übernommen. Und zu Weihnachten spielt in der Kirche die „posauni“.
IN: Wem würden Sie Ihr Buch auf den weihnachtlichen Gabentisch legen?
Mielke: Eigentlich allen, die sich für spannende Lebens-, Liebes- und Abenteuergeschichten interessieren; allen, die gern lesend im Kopf auf Weltreisen gehen, und allen, die sich für Sprache(n) und deren Entwicklung interessieren. Dank der großartigen Illustrationen der Berliner Illustratorin Hanna Zeckau lädt das Buch darüber hinaus einfach auch zum Blättern und Schauen ein – jede Illustration erzählt noch einmal eine eigene Geschichte.
IN: Liebe Frau Mielke, vielen Dank für das Gespräch.