Erfahrungen einer Trauerrednerin
Was veranlasst eine junge, erfolgreiche Journalistin dazu, ihr Leben ganz neu auszurichten und – ausgerechnet – Trauerrednerin zu werden? Im Fall der in England geborenen und heute in Hamburg lebenden Journalistin Louise Brown war es der Tod der eigenen Eltern, der sie aus der Bahn warf. Nachdem Vater und Mutter innerhalb von drei Monaten verstorben waren, erlebte Louise Brown, wie die Trauer sie psychisch und physisch belastete. Sie begann, sich intensiv mit dem Thema Tod und Sterben zu beschäftigen, und erlebte, dass man aus dem bewussten Umgang mit der (eigenen) Vergänglichkeit wertvolle Impulse für das Leben beziehen kann. So entstand die Idee, künftig als Trauerrednerin auch anderen Menschen im Schmerz ihres Verlusts beizustehen. Seitdem hat die Journalistin Hunderten Menschen „das letzte Geleit“ gegeben. Bei den Trauerfeiern versucht sie, für die Angehörigen und Freunde das Leben des oder der Verstorbenen mit seinen Besonderheiten noch einmal lebendig werden zu lassen. Dabei geht es ihr immer um zwei Blickrichtungen: Zum einen um die Frage: Was bleibt von demjenigen, der verstorben ist. Da hat die Erfahrung sie gelehrt, dass es keineswegs die „strahlenden“ Ereignisse, die tolle Karriere, das „große Geld“ sind, die in Erinnerung bleiben, sondern viel häufiger kleine, vermeintlich banale, aber „sprechende“ Gewohnheiten oder Eigenarten, wie die „Hasenbrote“, die der Vater für seine Kinder aufsparte; oder das traditionelle Kuscheln mit den Kindern im Bett sonntagmorgens; oder die kleinen „Schätze“, die beim Aufräumen irgendwo in einer Krempelschublade auftauchen. Die zweite Blickrichtung betrifft das eigene Leben: Wenn wir in der Begegnung mit Tod und Sterben lernen, wie klug es ist, „das Leben von hinten zu denken“, kann das zum wunderbaren Maßstab für die eigene positive Lebensgestaltung werden, weil es Raum schafft für Menschlichkeit, für Zärtlichkeit, für Mut und womöglich ganz unkonventionelle, aber bereichernde Lebens-Prioritäten.
In ihrem ersten Buch erzählt Louise Brown von Trauer, von Sterben und Tod – aber sie tut es in einer Weise und mit einer Grundhaltung, die daraus ein wunderbares „Lebens-Buch“ entstehen lässt. Wer es gelesen hat, packt das eigene Leben und das Zusammenleben mit seinen Lieben sicher mit neuer Bewusstheit, aber auch mit ein bisschen mehr Zuversicht und Freude an.
Dazu passt perfekt eine der „tiny love stories“ (vgl. Seite 19) : Sie erzählt von vier Brüdern, die in sehr enger Verbundenheit miteinander aufwachsen: „Wir wuchsen in geraden Zahlen auf. Zwei Eltern, vier Söhne, sechs Personen. Zwei Jungs pro Schlafzimmer …. Bestraft, gerufen und über das Leben aufgeklärt wurden wir immer paarweise. Dann, in unserer Lebensmitte, rief mich Kurt an, um mir mitzuteilen, dass Greg, der Jüngste, unerwartet gestorben war, und ich rief Chris an, um es ihm zu sagen. Chris und ich flogen nach Hause und Kurt traf uns am Flughafen. Wir hielten einander und in diesem Moment wurden aus vieren drei und wir drei wurden eins.“
Rita Mielke
Louise Brown. Was bleibt, wenn wir sterben. Erfahrungen einer Trauerrednerin. Zürich: Diogenes. 2021. 244 S., 22,00 Euro