Lauren Groff zählt zu den renommierten amerikanischen Erfolgsautorinnen. Dass ausgerechnet sie sich in ihrem neuen Roman einem europäisch-mittelalterlichen Thema widmet, ist bemerkenswert. Und noch viel bemerkenswerter ist, wie souverän und großartig es ihr gelingt, die Geschichte einer weiblichen Emanzipation im 12. Jahrhundert so zu erzählen, dass man die Ära Trump (in der dieser Roman entstanden ist) immer als gegenwärtige Kontrastfolie mitdenkt und den Roman als kühne Replik auf deren unverhohlene Frauenfeindlichkeit liest.
Lauren Groff erzählt die Geschichte der Marie aus Frankreich, die als „Marie de France“ am Rande in die historischen Annalen eingegangen ist, möglicherweise eine uneheliche Halbschwester König Heinrichs II. von England und damit „Stieftochter“ der großen Eleonore von Aquitanien. Marie ist zu Beginn des Romans gerade mal 17 Jahre alt, hoch gewachsen, ungelenk, keine Schönheit, absolut ungeeignet für Ehe und höfisches Leben. Also wird sie kurzerhand als künftige Priorin in ein abgelegenes, verarmtes englisches Kloster „entsorgt“. Dafür bringt sie eigentlich die schlechtesten Voraussetzungen mit: Denn sie ist nicht gläubig, sie ist nicht sanft und demütig, sondern so rebellisch wie ihre kriegerischen Vorfahrinnen. Aber weil Widerstand zwecklos und Marie eine Frau der Tat ist, macht sie sich ans Werk, reorganisiert die Finanzen ebenso wie die Landwirtschaft des Klosters und dessen interne Strukturen: Jede Nonne wird künftig gemäß ihren Fähigkeiten eingesetzt. Bei der Aufnahme von Novizinnen sind deren handwerkliche Qualitäten ein wichtiges Kriterium. Diese ungewohnte klösterliche Frauenpower kommt ohne jede männliche Unterstützung aus. Und damit das auch nach außen sichtbar wird, lässt Marie ein Labyrinth von Wegen anlegen, das den Zugang zum Kloster für Uneingeweihte unmöglich macht.
In Lauren Groffs Roman wird kein einziger Mann namentlich benannt, alle klassisch „männlichen“ Funktionen sind ebenso geschickt wie souverän durch weibliches Personal ersetzt. Am Ende liest Marie sogar die Messe selbst. Das Besondere dieses außergewöhnlichen Buches liegt in der Gegenwärtigkeit der Sprache, die durch das Präsens diese so ferne Mittelalter-Welt so nah heranholt. Und es liegt in der in jeder Zeile spürbaren Wertschätzung und Hochachtung für weiblichen Freiheitsdrang und den Kampf gegen Unterdrückung, für Kreativität und Intellekt und deren schier grenzen-lose utopische Optionen. Diesem Kampf um weibliche Selbstermächtigung, im Mittelalter nur an der „Oberfläche“ anders als heute, wird in „Matrix“ ein utopisch-zeitloses Denkmal errichtet. In jeder Zeile spürbar ist die Freude am visionären Fabulieren, mit der Lauren Groff den historischen Stoff mit neuem Leben erfüllt hat. – Ein literarisches „Highlight“ des Jahres 2022 – und eine unbedingte Leseempfehlung, keineswegs nur für Frauen!
Rita Mielke
Lauren Groff: Matrix. Berlin: Claassen Verlag, 2022. 320 S., 24,- Euro