Als Ende des 19. Jahrhunderts das Fahrrad in Mode kam, waren es in Deutschland Moral und Schicklichkeit, die dem weiblichen Geschlecht das Benutzen der komfortablen Zweiräder verboten. Ganz anders in Frankreich: Da weigerten sich die jungen Damen selbst, Fahrräder zu benutzen: Denn es gab keine Möglichkeit, dort ein Kosmetikköfferchen unterzubringen!
Kuriose Geschichten wie diese sind es, die die „Wunderkammer des Reisens in Deutschland“ zu einem grandiosen Lese- und Kopf-Reise-Vergnügen machen. Im Stil eines klassischen Kuriositätenkabinetts versammelt Herausgeber Thomas Böhm in diesem grafisch opulent gestalteten Band eine Fülle an historischem und aktuellem Material, stets mit einem gewissen Augenzwinkern und einer guten Portion Erheiterungspotenzial: u.a. historische Reisenotizen von Johanna Schopenhauer (die sich über lärmende Kinder mokierte) bis Joachim Ringelnatz (der 1929 als erster Literat das „gereimte“ Hohelied des Fliegens anstimmte); eine „Gepäckliste für Fußreisende“ aus dem Jahr 1843; einen „Ratgeber für Besuche in der DDR“ aus dem Jahr 1976. Wie man sich angemessen im Zugabteil verhalten sollte, verrät ein „Benimmführer aus dem Jahr 1895. In einem Beitrag wird eine kleine Typologie der „Bauernhofurlauber“ vorgestellt, die – man staune – 2017 vom Bundeslandwirtschaftsministerium erstellt wurde. In einem anderen Beitrag geht es um das „Phänomen des Kurschattens“… Originell präsentierte Karten stellen u.a. beliebte Instagram-Orte, die tierreichsten Zoos, Rodelbahnen, Badeseen und besondere Frühlingswandertouren vor.
All das folgt keinem systematischen Anordnungsprinzip, sondern ist allein Neugier, Entdeckungsfreude und dem Ausloten der Kulturgeschichte des Reisens auf ihren Ab- und Seitenwegen geschuldet.
Diesem Sammlungsprinzip kann man sich lesend gut überlassen – blättern, verweilen, staunen, weglegen – und beim nächsten Mal eine neuerliche Entdeckungsrunde starten, bei der man ohne Frage viele Fakten, viele Hintergründe, viele (historische) Zusammenhänge zum ersten Mal zur Kenntnis nehmen wird. Viele eher unbekannte Ecken und Flecken in Deutschland werden dabei in den Fokus gerückt. Und selbst erfahrene Deutschlandreisende werden mit hoher Wahrscheinlichkeit an so mancher Stelle seufzen: „Da war ich eigentlich noch nie“ – genau so, wie es der Titel des Buches formuliert. Die Lektüre dieses imposanten Buches ist (fast) so erholsam wie eine Reise selbst. Ideal für eher reisearme Novembertage!
Rita Mielke
Thomas Böhm (Hrsg.) Da war ich eigentlich noch nie. Die Wunderkammer des Reisens in Deutschland. Berlin: Verlag Das kulturelle Gedächtnis. 2021. 320 S., 28,- Euro