Frauen in der Geschichte hatten es doppelt schwer: Zum einen mussten sie sich gegen vorgegebene Rollen und erhebliche Widerstände zur Wehr setzen, wenn sie denn einen anderen als den für sie vorgezeichneten Weg gehen wollten. Aber selbst wenn sie damit erfolgreich waren, traf das „männliche“ Diktum sie ein zweites Mal: Denn die Geschichtsschreibung, ebenfalls männlich dominiert, sorgte dafür, dass „große“ Frauen möglichst schnell wieder in Vergessenheit gerieten.
Ein ebenso prominentes wie erschütterndes Beispiel dafür ist die Engländerin Lady Mary Montagu (1689 – 1762). Um den Mann zu heiraten, den sie liebte, musste sie eine abenteuerliche Flucht in Kauf nehmen und auf alle Annehmlichkeiten einer standesgemäßen Eheschließung
verzichten. Dafür hatte sie das Glück, ihre Abenteuerlust im fernen Konstantinopel befriedigen zu können, denn dorthin wurde ihr Mann als Botschafter entsandt. Sie erhielt dort Zugang zu den geheimnisumwobenen Harems der Frauen und lernte Selam, die Sprache der Blumen, kennen.
Im viktorianischen England und später in ganz Europa sollten die detaillierten Beschreibungen Lady Montagus für Furore und millionenfache Nachahmung sorgen. Was ließ sich nicht alles diskret „durch die Blume“ sagen? Bis heute wirkt der Zauber der Blumensprache nach – egal ob in roten Rosen, gelben Nelken oder Vergissmeinnicht.
Aber nicht nur diese kulturhistorische Leistung der passionierten Engländerin ist in Vergessenheit geraten. Dass sie noch in einem anderen Bereich Geschichte geschrieben hat, erfahren wir jetzt in dem lesenswerten Roman von Paula Bellheim, die uns mit Mary Montagu als Impfpionierin bekanntmacht: Als junges Mädchen war sie – wie Tausende anderer in der damaligen Zeit – an den gefährlichen Pocken erkrankt, überlebte zwar, aber trug die Spuren dieser Krankheit für den Rest ihres Lebens im Gesicht und an ihrem Körper.
Und dann lernte sie in Konstantinopel das Verfahren der sog. Variolation kennen, eine frühe Form der Pockenschutzimpfung, die große Erfolge im Kampf gegen die Krankheit erzielte. Vom mühsamen Kampf um die Anerkennung dieses Verfahrens in ihrer Heimat lesen wir in Paula Bellheims Roman. Dass die Ablehnung dieses von den Türken stammenden Verfahrens unter Lady Marys Zeitgenossen grenzenlos war, zumal eine Frau die
medizinische Männerwelt davon zu überzeugen versuchte, verwundert nicht.
Paula Bellheim lässt uns in ihrem Roman teilhaben an dem dennoch mit unerschütterlicher Leidenschaft geführten Kampf Lady Marys, die sich nicht nur mit der Verbohrtheit von Wissenschaft und Medizin, sondern auch mit Feindseligkeit und Ablehnung selbst im engen familiären Umfeld konfrontiert sah.
Dass in die Medizingeschichte am Ende ein Mann als „Entdecker“ der Pockenschutzimpfung in die Medizingeschichte eingegangen ist, der Landarzt Edward Jenner nämlich, obwohl er lediglich das von Lady Mary propagierte Verfahren weiterentwickelte, setzt einen traurigen Schlussakkord unter dieses wahrhaft tragische Frauenschicksal. Paula Bellheim hat es in ihrem Roman zu einer ebenso flüssig wie spannend zu lesenden Lebensgeschichte verdichtet.
Rita Mielke
Paula Bellheim: Lady Mary Montagu. Die Impfpionierin. Köln: Lübbe. 2023. 414 S., 13,- €