Kein Thema hat die Afrikaforschung im 19. Jahrhundert mehr beschäftigt als die Entdeckung der sagenumwobenen Quellen des Nils. Um den Ursprung dieser Lebensader des Alten Ägypten ausfindig zu machen, hatten Ägypter, Griechen und Römer allergrößte Anstrengungen unternommen. Im 19. Jahrhundert entbrannte eine neuerliche Faszination um dies große und immer noch ungelöste Rätsel der Geografie. Kein Wunder, dass sich mit der Entdeckung der Nilquellen die Hoffnung auf einen Spitzenplatz im Olymp der Forscher und Entdecker verband.
Insbesondere zwischen den Briten John Hanning Speke (1827 – 1864) und Richard Francis Burton (1821 – 1890), die 1857 im Auftrag der englischen Krone zunächst gemeinsam zu einer Expedition aufbrachen, entbrannte eine leidenschaftliche Kontroverse um die Frage, wer von beiden denn nun der wahre Sieger im Wettlauf um die Entdeckung des Nilursprungs sei. Um das zu klären, sandte die Royal British Society 1866 den schottischen Missionar und Forschungsreisenden David Livingstone in die Region. Als von ihm kein Lebenszeichen mehr kam, machte sich der amerikanische Journalist und Afrikaforscher Sir Henry Morton Stanley auf den Weg, Livingstone – und womöglich zugleich die Nilquellen - zu finden…
Die Namen Spekes, Burtons, Livingstones und Stanleys sind in die Geschichte eingegangen. Der eigentliche Held dieser Expeditionen aber war weder Europäer noch Amerikaner, vielmehr ein Afrikaner aus der Gemeinschaft der Yao, der sich aus indischer Gefangenschaft und Sklavendiensten hatte befreien können: Sidi Mubarak Bombay (1820 – 1885) ist heute ein von der Geschichte Vergessener. Dabei hätte ohne ihn die gemeinsame Expedition von Speke und Burton ebenso wie Spekes zweite Expedition und nicht zuletzt die Reise Stanleys einen völlig anderen Verlauf genommen. Denn Sidi Mubarak Bombay fungierte als Übersetzer, Vermittler, Berater, Karawanen- und Reiseleiter…
Vor dem Hintergrund der aktuellen Kolonialismusdiskussionen schildert die amerikanische Autorin und Journalistin Candice Millard in ihrem
erzählenden Sachbuch ebenso fundiert wie mitreißend von einer der bedeutsamsten Expeditionen der europäischen Geschichte. Dabei demonstriert sie, wie packend und faszinierend Geschichte veranschaulicht werden kann, wenn man umfassende Faktenkenntnis und historische
Genauigkeit mit erzählerischem Talent verknüpft. Über weite Strecken liest ihre Schilderung sich so anschaulich, als sei sie selbst an der Seite der Forscher mitgereist. Und in der Tat war sie monatelang zu Recherchezwecken in Kenia, Sansibar, Tansania, Uganda und England unterwegs, bevor sie mit der schreibenden Aufarbeitung begann.
Das Genre des erzählenden Sachbuchs – im vorliegenden Fall mit Fotografien, Karten, Anmerkungen, Literaturhinweisen und Register versehen - steckt hierzulande noch in den Kinderschuhen. Mit dem “Fluss der Götter” setzt Candice Millard Maßstäbe und macht Lust auf mehr solcher ebenso klugen wie spannenden Aufarbeitungen.
Rita Mielke
Candice Millard: Der Fluss der Götter. Frankfurt/M.: Der Fluss der Götter. 2023. 418 S., 28 €