Der Sommer 2024 wird vielen als eindrucksvoller Sportsommer in Erinnerung bleiben. Da passt ein Roman ganz wunderbar, der die italienische Leidenschaft fürs Radfahren in den Fokus rückt. Denn auf einer Ebene dieses außergewöhnlichen Romans lernen wir den legendären Radrennfahrer Marco Pantani kennen. Er gewann 1998 den Giro und anschließend auch die Tour de France und wurde von den Italienern wie ein Nationalheld gefeiert. Im Roman bildet seine reale Lebensgeschichte den Hintergrund für die fiktive Geschichte von Fabio, einem 24jährigen Jurastudenten, der eigentlich den Sommer mit seinen Freunden in Sevilla verbringen möchte, stattdessen aber zum Zivildienst eingezogen wird und seinen Dienst als „Erzieher“ in einem einsamen Klosterinternat in den Apuanischen Alpen antreten muss. Vor Ort stellt er fest, dass es dort schon lange keine Schüler mehr gibt. Und auch als Hospiz für gebrechliche Priester taugt der Ort nicht mehr. Denn das „Personal“ beschränkt sich auf wenige, allesamt skurrile Gestalten – einen „Hausmeister“ mit Alkoholproblemen, eine grantige Köchin mit einer halbwüchsigen Tochter, die sich für ein Huhn hält, und den „Direktor“ der Einrichtung, Don Basagni, der seine Tage liegend in einer winzigen, abgedunkelten Kammer verbringt, Erdnüsse knackt, Musik hört (bevorzugt „The Doors“) und Fernsehen schaut. Fabio tut sich schwer mit diesem ewig quengelnden Alten, den er regelmäßig waschen soll und zu dem er so gar keinen Zugang findet. Das ändert sich erst, als beide sich ihre gemeinsame Leidenschaft für den Radsport eingestehen und zusammen für und mit Marco Pantani beim Giro 1998 und der anschließenden Tour de France mitfiebern. Fabio Genovesi hat selbst viele Jahre als Radsporttrainer gearbeitet. Diesem Umstand verdanken wir Beschreibungen der mörderischen Strapazen, die in ihrer Eindringlichkeit selbst wenig radsportaffine LeserInnen mitreißen. Das eigentliche Thema des Buches jedoch ist ein anderes: Denn Genovesi geht es um die Frage, wieviel Mut es für den Einzelnen braucht, zu seinem persönlichen Glück zu finden. Pantani wusste schon als kleiner Junge, dass sein Glück auf dem Fahrradsattel liegt und ließ sich selbst durch tragische Unfälle nie davon abbringen. Ganz anders Fabio: Seine „Karriere“ als Jurist entspringt nicht seinem eigenen Wollen, sondern dem seiner Familie und einem dubiosen Schuldgefühl, an dem er sich seit Kinderzeiten abarbeitet. Für Fabio ist der Weg weit und beschwerlich, bis er sich selbst – und allen Menschen in seiner Umgebung – eingestehen kann, dass sein „Lebens-Glück“ ein anderes ist. Die Zeit in der Einsamkeit des ehemaligen Klosters ist dabei ebenso wichtig wie die Faszination für den heldenhaften Marco Pantani.
Fabio Genovesis Roman erinnert in seinem zuweilen fast märchenhaften Ton an den Weltbestseller „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ der Britin Rachel Joyce. Lebens- und weltklug, mit vielen Sätzen, die man in seinen Zitatenschatz aufnehmen möchte, ist dies ein Roman, der auf sehr besondere Weise berührt und nachdenklich stimmt.
Rita Mielke
Fabio Genovesi: Vom Mut, das Glück zu suchen. München: Penguin Verlag. 2023. 382 S., 25,00 €