Eines Morgens erwacht Señora Dolores in einem Garten. Aber es ist nicht ihr Garten. Felipa und Antonio gehört der Garten. Und sie sind zunächst verwundert über den plötzlichen Gast. Dann nehmen sie die alte Dame mit ins Haus und bieten ihr an, zum Essen zu bleiben. Und obwohl Dolores so vieles in ihrem Leben schon vergessen hat, was ein perfektes Kichererbsenrezept benötigt, das weiß sie noch ganz genau. Und dann kommt Felipas Vater, der den unvergleichlichen Duft der spanischen Kichererbsensuppe seiner ehemaligen Chefin nie vergessen wird – und damit das Geheimnis lüften kann, wer denn die desorientierte alte Dame ist. 13 solcher herz- und gaumenschmeichelnder Geschichten erzählt Stevan Paul in seinem neuen Buch. Der gelernte Koch, der seit mehr als zwanzig Jahren in Hamburg lebt, hat zahlreiche Kochbücher veröffentlicht, aber parallel auch immer wieder Erzählbände. Dass in ihnen kulinarische Themen immer auch eine Rolle spielen, versteht sich beinah von selbst. Aber wie Stevan Paul es schafft, seinen Leserinnen und Lesern auf unspektakuläre und dennoch eindringliche Weise zu verdeutlichen, dass Essen und Trinken so viel mehr sind als nur eine Frage des Hungerstillens: Das gehört zu den unverwechselbaren Qualitäten dieses Autors. Da ist zum Beispiel die gestresste Managerin, die im Eiscafé grundsätzlich immer nur Erdbeereis bestellt und dann eines Tages vom Eisverkäufer mit Nachdruck ein Himbeereis in die Hand gedrückt bekommt. Und während sie ein bisschen widerstrebend und ärgerlich das Himbeereis zu schlecken beginnt, löst sich etwas in ihr, und es tritt ein Gefühl ein, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hat… Oder die Geschichte vom durchaus eigensinnigen Postbeamten, der wenigstens einmal in seinem Leben eine perfekte Ramen-Suppe kosten möchte – und am Ende aufbricht zu einer Reise in sein Sehnsuchtsland Japan…
Stevan Paul weiß um die Brüche und Umbrüche unserer Zeit und jedes Lebens – Krankheiten, Überforderung, verpasste Lebenschancen. Dem setzt er in seinen Geschichten kleine Hoffnungszeichen entgegen, versteckte Botschaften, die – wie das Himbeereis bei der Managerin – davor bewahren, sich Pessimismus oder gar Verzweiflung hinzugeben. Dass diese Hoffnungszeichen zumeist mit leckerem Essen und gemeinsamen Mahlzeiten in Verbindung stehen, wundert nicht.
Stevan Paul entführt seine LeserInnen nach Japan, Friesland, Italien, Hamburg, Spanien und New York. In jeder seiner Geschichten spielt ein besonderes Gericht die Hauptrolle. Und um sich die jeweilige Geschmackswelt auch direkt in die eigene Küche holen zu können, gibt es zu jeder Geschichte natürlich das passende Rezept – eine feine Auswahl, die von der titelgebenden spanischen Kichererbsensuppe über Rote Curry-Linsensuppe mit Gurken-Minz-Joghurt bis zu Norddeutschem Kartoffelsalat mit gebratener Makrele reicht. Geschichten und Gerichte, die man sich – gern in Kombination – auf der Zunge zergehen lassen darf! – Eine Buchempfehlung für alle, die Spaß an klugen Geschichten und Freude an leckerem Essen haben!
Rita Mielke
Stevan Paul: Die Kichererbsen der Señora Dolores. Hamburg: mairisch. 2024. 208 S., 24,00 €