Die beiden Damen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die eine, Agatha Christies Miss Marple, eher rund und drall, die andere, Fräulein Charot, hoch aufgeschossen und im Vergleich zu ihren Zeitgenossinnen extrem dünn. Was sie jedoch jenseits ihrer Körperformen verbindet, ist zum einen die Liebe zu Hüten und zum anderen eine Spürnase, die allzu gern kriminellen Machenschaften auf ganz eigene Weise auf die Spur zu kommen versucht. Fräulein Charot ist eine Erfindung der Mönchengladbacher Autorin und Künstlerin Michèle Friedrichs. Aktuell ermittelt sie zum zweiten Mal in einem Fall, der sie und ihre LeserInnen mitten hineinführt in das Mönchengladbach des frühen 20. Jahrhunderts, in eine dank der Industrialisierung prosperierende Stadt, die allerdings auch ihre Schattenseiten hat: Denn wo auf der einen Seite bürgerlicher Wohlstand herrscht, ist die Lage der Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen umso schwieriger. In ihrem ersten Buch hatte Michèle Friedrichs ihr Fräulein Charot im Umfeld der Lungenheilstätte im Hardter Wald ermitteln lassen. In ihrem neuen Fall ermittelt sie in einer der großen Maschinenfabriken. Denn dort ist ein Maschinist ermordet worden. Und ausgerechnet ihre junge Freundin Lilli gerät in den Verdacht, den Mann ermordet zu haben. Was aber hatte Lilli überhaupt in der Aktienspinnerei zu suchen? Und wer war der geheimnisvolle Maschinist? Hartnäckig und gegen alle Widerstände nimmt Fräulein Charot ihre Ermittlungen auf. Schnell erkennt sie, dass der Maschinist kein „einfacher“ Arbeiter war, dass es sich bei ihm vielmehr um einen wohlhabenden Unternehmer und Erfinder handelte, der sich – als Arbeiter getarnt – Zugang zu den neuartigen Dampfmaschinen in der Aktienspinnerei verschafft hatte… Ihre Leserinnen und Leser führt die Autorin dabei in eine Atmosphäre von Gründergeist und technischem Aufbruch, in der Dampfmaschinen ganz neue Dimensionen des Arbeitens und Lebens ermöglichen, in der die ersten Automobile auf Mönchengladbachs Straßen unterwegs sind und auch das Telefonieren über ein Fräulein im Amt ganz neue Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet. Die Faszination der neuen Technik und ihrer Möglichkeiten treibt so manchen genialen Geist um – und lässt ihn dabei womöglich auch auf Abwege geraten. Michèle Friedrichs hat enorm akribisch recherchiert. Sie versteht es, mit viel Empathie für ihre Figuren und einem ausgeprägten Sinn für atmosphärische Schilderungen die vielen historischen Fakten geschickt in eine spannende Handlung einzubauen. Fräulein Charots turbulente Ermittlungen halten dabei sie manche Überraschung bereit – der Spannungsbogen hält sich bis zum Ende und zur finalen Aufklärung des Falls. – Ein großes Lesevergnügen für alle, die an historischen und regionalen Themen ihre Freude haben, zumal, wenn diese so charmant aufbereitet werden!
Rita Mielke
Michèle Friedrichs: Fräulein Charot und das Geheimnis des Maschinisten. 217 S., 22 €