Wer dickleibige Bücher mag, kann sich derzeit nicht beklagen. Voluminöse ‚Epen‘ liegen im Trend. Insbesondere amerikanische Autorinnen und Autoren sind Meister der langen Form, die gern auch mal die tausend Seiten überschreiten darf – man denke an Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides oder Donna Tartt. Mit Nathan Hill gesellt sich jetzt eine neue eindrucksvolle Erzählstimme hinzu: Hills erster Roman „Geister“ umfasst knapp 900 Seiten und beschreibt auf unterschiedlichen Zeitebenen Entwicklungsstationen der amerikanischen Gesellschaft von den 1960er Jahren bis heute. Mit großem erzählerischen Geschick legt Hill, der gerade mal 40 Jahre alt ist, in seinem Romanerstling einen roten Handlungsfaden, der zwei Personen, den Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Samuel Anderson und dessen Mutter Faye in den Mittelpunkt rückt. „Hab keine Angst“, sagt Faye ihrem kleinen Sohn, als sie ihn und ihren Mann ohne jede Vorwarnung und ohne jede Erklärung verlässt. „Hab keine Angst“ flüstert sie Samuel 23 Jahre später ins Ohr, als sie fluchtartig die USA verlässt, weil sie dort unter Terrorismusverdacht geraten ist, nachdem sie den republikanischen Gouverneur und Präsidentschaftskandidaten Packer mit Kieselsteinen beworfen und am Auge getroffen hat. Was vor und zwischen diesen beiden Momenten liegt, erzählt Nathan Hill in einer furiosen Mischung aus Gesellschaftsroman, Entwicklungsgeschichte und Familiendrama mit psychologischem Tiefgang. Die „Geister“, die dem Buch seinen Titel gegeben haben, sind die Geheimnisse, die die Menschen in Hills Szenario tief in ihren Seelen vergraben haben, weil sie mit (allzu) schmerzlichen Gefühlen von Angst, von Scham, von Schuld einhergehen. Was ist die Erklärung für Fayes rätselhaftes Verschwinden wie für ihre jeder nachvollziehbaren Logik entbehrende Attacke? Wie kann es sein, dass ein angesehener Literaturwissenschaftler (Samuel) heimlich stundenlang seine Computerspiel-Sucht in einem digitalen Elfenland auslebt? Was treibt einen Richter dazu, mit gnadenloser Härte Fayes Kieselsteinwurf zum terroristischen Akt hochzuspielen? Und was läuft schief, wenn eine Studentin sich skrupellos durchs Studium mogelt und dabei vor keiner Schandtat zurückschreckt?
Nathan Hill gelingt es souverän, mit den unterschiedlichen Zeit- und Handlungsebenen und den wechselnden Erzählstilen ein Romanmosaik zu erstellen, das bis zum Ende spannend bleibt und sich erst ganz zum Schluss, beim Einfügen des letzten Puzzlesteins gleichsam, zu einem Gesamtbild fügt. Es ist ein zuweilen beklemmendes Zeit- und Charakterszenario, das er entwirft. Und die Einblicke in die amerikanische Gesellschaft und deren Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten, wie sie in diesem Buch geliefert werden, machen manches von dem verständlich, was wir derzeit tagtäglich im Trump-Land erleben (müssen).
Rita Mielke
Nathan Hill: Geister. München: Pieper. 2017. 864 S., 14,- Euro