Spätestens, wenn in Leipzig die alljährliche Buchmesse ansteht, steigt die Zahl der Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt ins Unübersichtliche. Da kann so manche „Buch-Perle“ schnell auch mal ins Abseits geraten und übersehen werden. Eine kleine Auswahl an Titeln, die unbedingt empfehlens- und lesenswert sind, haben wir für Sie zusammengestellt.
Lesetipps von Rita Mielke
Elsemarie Maletzke ist als profunde Kennerin der englischen Literatur und Biografin renommierter Autorinnen ebenso bekannt wie als Gartenliebhaberin. Zu ihren „Spezialitäten“ zählen Kriminalgeschichten, in denen Gärten und Pflanzen die eigentlichen Protagonisten sind. So auch in ihrem jüngsten Krimi, dessen Schauplatz eine verwitterte alte Mühle und der zugehörige Garten mit Zugang zu einem Wehr sind. Hierhin hat sich Agathe zurückgezogen, eine skurrile ältere Dame, die – nomen est omen – ein bisschen an die englische Krimiautorin gleichen Vornamens und deren Miss Marple erinnert. Sie selbst ist auf der Flucht vor einem anonymen Erpresser – und vor einer Vergangenheit, über die der Unbekannte gut Bescheid zu wissen scheint. Damit nicht genug, erfährt sie schon bald von dem Mord an einer jungen Frau, die in ihrem Garten gefunden wurde, ohne dass die Umstände ihres Todes aufgeklärt worden wären. Elsemarie Maletzke versteht es meisterhaft, ihre LeserInnen auf falsche Fährten zu setzen, sie in der Sicherheit einer vergnüglichen Kriminalgeschichte zu wiegen, um dann nach und nach abgründige „Tiefenschichten“ zu offenbaren. Mit diesem Roman hat Elsemarie Maletzke es verdientermaßen auf die Auswahlliste für den Krimi-Glauser 2024 geschafft. Ein Gewinn wäre ihr zu wünschen.
Elsemarie Maletzke: Agathes dunkler Garten. Frankfurt/M., 2023. 288 S., 20,00 €
Zu den vielen immer noch viel zu wenig bekannten Geschichten aus der Zeit des Dritten Reiches gehört die über den österreichischen Kinderpsychiater Hans Asperger. Ihm war es im Wien der 1920er Jahre erstmals zu verdanken, dass er bei hochintelligenten Kindern mit sozial-emotionalen Störungen eine Autismus-Erkrankung diagnostizierte. Die Schattenseite: Nach dem „Anschluss“ Österreichs geriet Asperger in die Fänge der braunen Ideologie und machte die Frage einer möglichen Behandlung von der „Nützlichkeit“ der „autistischen Automaten“ für die Volksgemeinschaft abhängig. Laura Baldini, die selbst mit autistischen Kindern arbeitet, erzählt diese Geschichte am Fall des kleinen Erich, der schreckliche Jahre in einer Pflegefamilie erlebt hat und dann zu Dr. Asperger kommt, bei dem er vor allem durch die zugewandte Krankenschwester Viktorine Zuneigung und Verständnis findet. Leider ist das ‚Glück‘ nicht von Dauer, denn bald schon werden die Zeitumstände für Erich lebensgefährlich… Keine leichte, aber dafür eine umso wichtigere Kost – in Zeiten, in denen „wider das Vergessen“ ganz neue Qualität bekommt.
Laura Baldini: Aspergers Schüler. München: Piper. 2023. 368 S., 22,00 €
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, nach welchen Kriterien Sie die Bücher für Ihre Lesestapel auswählen? Warum Sie eine Vorliebe für Krimis oder eine Abneigung gegen historische Romane haben, weshalb Sie Bücher über starke Frauen schätzen oder Kinderschicksale Sie so berühren? Bei der Lektüre von Christine Westermanns aktuellem Buch drängen sich solche Fragen förmlich auf. Denn sie stellt nicht nur die Frage nach den eigenen Auswahlkriterien, sie liefert für sich selbst auch die Antwort: Die eigene unglückliche Kindheit in einer zerrissenen Familie lässt sie bis heute immer wieder bevorzugt zu Romanen greifen, in denen Familienthemen in der einen oder anderen Form behandelt werden. Es ist die unprätentiöse Offenheit, mit der die prominente Fernseh- und Bücherfrau über eigene Unsicherheiten, über ihren eher emotionalen als intellektuellen Zugang zu Büchern, über ihr „Fremdeln“ mit dem Literarischen Quartett oder ihre Bewunderung für Elke Heidenreich nachdenkt, mit der sie ihre Leser*innen Seite um Seite gewinnt. Dass das Ganze sich verknüpft mit einer Fülle starker Lesetipps und Buchempfehlungen, macht die Lektüre zu einem in vielerlei Hinsicht ausgesprochen lohnenswerten Unterfangen.
Christine Westermann: Die Familien der anderen. Köln: Kiwi. 2024. 224 S., 13,00 €