In diesem Buch versinkt man, kaum, dass man es aufgeschlagen hat. „Humans“ – „Menschen“ lautet der schlichte Titel, und auf 438 Seiten präsentiert das Buch genau das: Menschen, festgehalten in fotografischen Momentaufnahmen, irgendwo auf der Welt, Kinder und Hochbetagte, verliebte Paare und verzweifelte Trauernde, Menschen, die vom Leben gezeichnet sind, und solche, die sich von der Zukunft noch alles erhoffen. Fotos und begleitende Texte stammen von dem amerikanischen Fotografen Brandon Stanton, der vor mehr als zehn Jahren mit einem ähnlichen Fotoprojekt in New York gestartet ist. Für das aktuelle Projekt hat er mehr als vierzig Länder weltweit bereist und hat Menschen auf der Straße gebeten, sie fotografieren zu dürfen. Auszüge aus den begleitenden Gesprächen sind als mal längere, mal kürzere „Bildunterschriften“ den Fotografien beigegeben. Sie eröffnen zu dem jeweiligen optischen Porträt blitzlichtartig Einblicke in das Innenleben der gezeigten Menschen, in ihre Gefühlslage, in das, was sie umtreibt. Brandon Stanton geht es dabei nicht um sachliche Ausgewogenheit, nicht um statistisch saubere Verteilungsfragen – Männer, Frauen, Länder, Religionen, Kulturen. Ihm geht es allein um gelebte(s) Leben, um radikal ehrliche Geschichten, um Momentaufnahmen, die sich in der Summe zu einem grandiosen Welt- und Zeitporträt verdichten.
Da ist der pakistanische Junge, fotografiert auf einer Wiese vor gewaltiger Bergkulisse, der mit grimmig-entschlossenem Gesichtsausdruck in die Kamera schaut – und mit dem Satz zitiert wird: „Ich möchte Polizist werden. Wegen der Macht.“ Da ist die hochbetagte alte Dame in Buenos Aires, auf einer Bank in einem Park sitzend, die Sehnsucht hat: „Ich hätte gern einen hochgewachsenen Mann: zwischen 85 und 90 Jahre alt. Vorzugsweise ein Geschäftsmann. Und er muss gute Laune verbreiten. In allen anderen Dingen bin ich sehr offen.“ Und da sind die drei Jungs, die nebeneinander auf einer abgewrackten Kiste in einem Armenviertel von Kairo sitzen und in die Kamera grinsen: „Die Leute schreien immer: ‚Geht woanders spielen!‘ Aber wo sollen wir denn hin? Und sie sagen immer: ‚Seid nicht so laut! Aber wie soll man spielen, wenn man nicht laut sein darf?‘“
Manche von Stantons Geschichten sind in wenigen Zeilen erzählt, manche brauchen drei oder vier Seiten und mehrere Fotos. Manche Texte laden zum Schmunzeln ein, andere sind markerschütternd traurig. Und immer wieder schleicht sich beim Lesen der Gedanke ein: Ja, in dieser Welt leben wir, in einer Welt, in der für all diese Menschenkinder und all diese Geschichten, für so viele Lebensdramen und für so viel unerschütterlichen Lebenswillen, für Hoffnung und Sehnsucht und Liebe Platz ist. Stantons Buch bietet den Stoff für Dutzende, für Hunderte Romane. Stantons Buch leistet Großartiges: Denn es relativiert auf unspektakuläre, aber eindringliche Weise eigene Lebenserfahrungen, nicht zuletzt in Coronazeiten!
Rita Mielke
Brandon Stanton: Humans. Bewegende Geschichten von Menschen aus der ganzen Welt.
München: Riva. 2020. 438 S., 24,99 €